Ukraine-Krieg
Offener Brief fordert von Scholz Stopp der Waffenlieferungen
an die Ukraine
Ein offener Brief, der unterzeichnet wurde von Daniela Dahn
und Konstantin Wecker, fordert den Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine.
BLZ/kuri, 22.4.2022 - 11:21 Uhr
Angesichts wachsenden Drucks auf Bundeskanzler Olaf Scholz,
der Forderung nach Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine nachzukommen, hat
sich ein Kreis von Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Kultur und
anderen Bereichen der Zivilgesellschaft in einem offenen Brief an den Kanzler
gewandt.
Darin fordern sie, die Waffenlieferungen an die ukrainischen
Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militärischen
Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen
Waffenstillstand und eine politische Lösung ‒ zu beenden.
Die UnterzeichnerInnen kritisieren, dass mit der Lieferung
von Waffen sich Deutschland und weitere Nato-Staaten de facto zur Kriegspartei
gemacht hätten und warnen vor einer atomaren Eskalation.
Waffenlieferungen und militärische Unterstützung durch die NATO
würden den Krieg verlängern und eine diplomatische Lösung in weite Ferne
rücken. Der Preis eines längeren militärischen Widerstands wären ‒ unabhängig
von einem möglichen Erfolg ‒ noch mehr zerstörte Städte und Dörfer und noch
größere Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung.
Mit ihrer Initiative wollen die UnterzeichnerInnen auch ein
Signal an die Mitglieder des Bundestages senden, die kommende Woche
voraussichtlich über weitere Waffenlieferungen an die Ukraine beraten werden.
Hier der offene Brief im Wortlaut.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
wir sind Menschen unterschiedlicher Herkunft, politischer
Einstellungen und Positionen gegenüber der Politik der NATO, Russlands und der
Bundesregierung. Wir alle verurteilen zutiefst diesen durch nichts zu
rechtfertigenden Krieg Russlands in der Ukraine. Uns eint, dass wir gemeinsam
vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für
die gesamte Welt warnen und uns gegen eine Verlängerung des Krieges und
Blutvergießens mit Waffenlieferungen einsetzen.
Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und
weitere NATO-Staaten de facto zur Kriegspartei gemacht. Und somit ist die
Ukraine auch zum Schlachtfeld für den sich seit Jahren zuspitzenden Konflikt
zwischen der NATO und Russland über die Sicherheitsordnung in Europa geworden.
Dieser brutale Krieg mitten in Europa wird auf dem Rücken
der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen. Der nun entfesselte Wirtschaftskrieg
gefährdet gleichzeitig die Versorgung der Menschen in Russland und vieler armer
Länder weltweit.
Berichte über Kriegsverbrechen häufen sich. Auch wenn sie
unter den herrschenden Bedingungen schwer zu verifizieren sind, so ist davon
auszugehen, dass in diesem Krieg, wie in anderen zuvor, Gräueltaten begangen
werden und die Brutalität mit seiner Dauer zunimmt. Ein Grund mehr, ihn rasch
zu beenden.
Der Krieg birgt die reale Gefahr einer Ausweitung und nicht
mehr zu kontrollierenden militärischen Eskalation ‒ ähnlich der im Ersten
Weltkrieg. Es werden Rote Linien gezogen, die dann von Akteuren und Hasardeuren
auf beiden Seiten übertreten werden, und die Spirale ist wieder eine Stufe
weiter. Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr
Bundeskanzler, diese Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz
große Krieg. Nur diesmal mit Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende
der menschlichen Zivilisation. Die Vermeidung von immer mehr Opfern,
Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation muss daher absoluten
Vorrang haben.
Trotz zwischenzeitlicher Erfolgsmeldungen der ukrainischen
Armee: Sie ist der russischen weit unterlegen und hat kaum eine Chance, diesen
Krieg zu gewinnen. Der Preis eines längeren militärischen Widerstands wird ‒
unabhängig von einem möglichen Erfolg ‒ noch mehr zerstörte Städte und Dörfer
und noch größere Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung sein.
Waffenlieferungen und militärische Unterstützung durch die NATO verlängern den
Krieg und rücken eine diplomatische Lösung in weite Ferne.
Es ist richtig, die Forderung „Die Waffen nieder!“ in erste
Linie an die russische Seite zu stellen. Doch müssen gleichzeitig weitere
Schritte unternommen werden, das Blutvergießen und die Vertreibung der Menschen
so schnell wie möglich zu beenden.
So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt
auch ist, es ist die einzig realistische und humane Alternative zu einem langen
zermürbenden Krieg. Der erste und wichtigste Schritt dazu wäre ein Stopp aller
Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem auszuhandelnden
sofortigen Waffenstillstand.
Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und
NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an die ukrainischen Truppen
einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militärischen
Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen
Waffenstillstand und eine politische Lösung ‒ zu beenden. Die bereits von
Präsident Selenskyi ins Gespräch gebrachten Angebote an Moskau ‒ mögliche
Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den
zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle Chance.
Verhandlungen über den raschen Rückzug der russischen
Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine
sollten durch eigene Vorschläge der NATO-Staaten bezüglich berechtigter
Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten unterstützt werden.
Um jetzt weitere massive Zerstörungen der Städte so schnell
wie möglich zu stoppen und Waffenstillstandsverhandlungen zu beschleunigen,
sollte die Bundesregierung anregen, dass sich die derzeit belagerten, am
meisten gefährdeten und bisher weitgehend unzerstörten Städte, wie Kiew,
Charkiw und Odessa zu „unverteidigten Städten“ gemäß dem I. Zusatzprotokoll des
Genfer Abkommen von 1949 erklären. Durch das bereits in der Haager
Landkriegsordnung definierte Konzept konnten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche
Städte ihre Verwüstung verhindern.
Die vorherrschende Kriegslogik muss durch eine mutige
Friedenslogik ersetzt und eine neue europäische und globale Friedensarchitektur
unter Einschluss Russlands und Chinas geschaffen werden. Unser Land darf hier
nicht am Rand stehen, sondern muss eine aktive Rolle einnehmen.
Hochachtungsvoll,
PD Dr. Johannes M. Becker, Politologe, ehem. Geschäftsführer
des Zentrums für
Konfliktforschung in Marburg
Daniela Dahn, Journalistin, Schriftstellerin und
Publizistin, Pen-Mitglied
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, Internationale
Liga für Menschenrechte
Jürgen Grässlin, Bundessprecher DFG-VK und Aktion Aufschrei
‒ Stoppt den Waffenhandel!
Joachim Guilliard, Publizist
Dr. Luc Jochimsen, Journalistin, Fernsehredakteurin, MdB
2005-2013
Christoph Krämer, Chirurg, Internationale Ärzte für die
Verhütung des Atomkrieges IPPNW (deutsche Sektion)
Prof. Dr. Karin Kulow, Politikwissenschaftlerin
Dr. Helmut Lohrer, Arzt, International Councilor, IPPNW
(deutsche Sektion)
Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Politik- und
Wirtschaftswissenschaftler
Dr. Hans Misselwitz, Grundwertekommission der SPD
Ruth Misselwitz, evangelische Theologin, ehem. Vorsitzende
von Aktion Sühnezeichen
Friedensdienste
Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler, ehem. Mitglied des
Deutschen Bundestages
Prof. Dr. Werner Ruf, Politikwissenschaftler und Soziologe
Prof. Dr. Gert Sommer, Psychologe, ehem. Direktoriummitglied
des Zentrums für
Konfliktforschung in Marburg
Hans Christoph Graf von Sponeck, ehem. Beigeordneter
Generalsekretär der UNO
Dr. Antje
Vollmer, ehem. Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
Konstantin Wecker, Musiker, Komponist und Autor
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/offener-brief-fordert-von-scholz-stopp-der-waffenlieferungen-an-die-ukraine-li.223704
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